Die Nacht ist kühl auf meiner Haut, die Hitze des Sommertages steigt noch immer vom Asphalt auf. Ich kann sie sehen, die dunklen Steinchen des billigen Landstraßenasphalts wie sie unter mir hinweghuschen, erst langsam, dann immer schneller. Der Fahrtwind wühlt mein verschwitztes Haar durcheinander, das Disco-Makeup ist verschmiert, mir ist schwindelig und ein bisschen schlecht vom Alkohol. Aber egal, alles egal, vollkommen egal. Ich könnte gerade schreien vor Glück und weiß nicht warum, was es noch viel besser macht. Der Fahrer dreht das Kassettendeck so laut auf, wie es geht. Ich halte meiner Freundin, die neben mir im offenen Kofferraum sitzt das Haar aus der Stirn, während sie hinunter auf die Straße kotzt. Sie wimmert ein bisschen, ich streichle ihr über die Wange und singe das Lied mit.
How long have you been free in this world of hate and greed is it black or is it white let's find another compromise
and our future´s standing still we're dancing in the spotlight ...
Der Fahrer hat das Auto von seinem Opa geliehen. Einen Führerschein hat er nicht. Dafür getrunken. Bevor wir zu siebt ins Auto gestiegen sind, gab es vor der Dorfdisko eine Prügelei, irgendwer hat auch geblutet. Worum es ging, weiß ich schon nicht mehr, als ich da hinten im Auto sitze, in die Sterne schaue und so glücklich bin, dass ich das Gefühl habe zu fliegen. Und dann überkommt mich plötzlich ein Drang, ich möchte hinausstürzen in die Nacht, springend, tanzend, schreiend in mein Leben laufen. Endlich anfangen. Ich könnte zerplatzen vor Freude und Erwartung, stattdessen schreie ich den Refrain des Liedes, die anderen schreien mit.
and god is on your side dividing presence from our history
watching all the time dividing deaf men from the listening ones
Heute höre ich nachts manchmal die Teenager aus der Gegend. Sie radeln durch den dunklen Wald hinter unserer Siedlung, dabei eine Boombox aus der Musik plärrt, die ich meistens nicht kenne, manchmal jauchzen und schreien sie und ich kann es wieder fühlen, für den Bruchteil einer Sekunde, wie es ist, wenn man nicht weiß, wohin mit sich, vor Glück, vor Schmerz, vor Erwartung.
Gerade in den Zeiten von Corona haben mich ihre nächtlichen Ausflüge so gefreut. Da draußen ist noch jemand lebendig. Freut sich, völlig ohne Hemmungen. Schreit dem Leben ins Gesicht.
Natürlich haben sie gegen die Corona-Regeln verstoßen. Ja, natürlich sagt mein Erwachsenes ich, dass das eigentlich nicht geht. Aber sie tun das, wofür sie da sind. Jung sein, frei sein. Obwohl alles dagegenspricht.
Und wenn junge Menschen durch eine Stadt ziehen und Polizisten verletzten, dann sagt mein Erwachsenes ich natürlich auch, dass das nicht in Ordnung ist. Aber wie es Till Raether auf Twitter geschrieben hat, wundere ich mich auch, dass das nicht viel öfter passiert.
<blockquote class="twitter-tweet"><p lang="de" dir="ltr">Wundere mich über jede Nacht, in der frustrierte Jugendliche nicht in Innenstädten randalieren</p>— Till Ra͙e͙t͙h͙er (@TillRaether) <a href="https://twitter.com/TillRaether/status/1274624690661851136?ref_src=twsrc%5Etfw">June 21, 2020</a></blockquote> <script async src="https://platform.twitter.com/widgets.js" charset="utf-8"></script>
Wir muten unseren Jugendlichen so vieles zu. Wir überfrachten sie mit Erwartungen, die wir selbst nicht erfüllen. Sie sollen funktionieren, etwas leisten, ihren Platz beweisen. Gleichzeitig werden vor allem jene beschämt, denen das nicht auf Anhieb gelingt. Obwohl gerade jene mit „Migrationshintergrund“ mit so vielen Vorurteilen belastet werden, dass es an ein Wunder grenzt, dass es dennoch einige schaffen, auszubrechen.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Nein, es ist nicht okay, wenn Polizisten angegriffen werden und Schaufensterscheiben eingeschmissen werden. Doch Alexandre Lacassagnes Aussage stimmt noch immer: „Jede Gesellschaft bekommt die Verbrecher, die sie verdient.“ Wir sollten uns fragen, warum junge Menschen das tun, was sie tun. Und wir sollten bedenken, dass wir gerade 4 Monate Pandemie hinter uns haben. Zeitungen und Fernsehsendungen sind voll von klagenden Erwachsenen, die ausbreiten, was das alles mit ihnen macht. Und die Jugendlichen? Die vielleicht seit Monaten in einer winzigen Wohnung saßen? Obwohl sie doch einfach jung sein sollten, feiern, andere junge Menschen kennenlernen, sich auf ihre Zukunft freuen, steht ihr Leben im Schatten der Ereignisse.
In den letzten Wochen ergoss sich eine Kaskade von Meldungen darüber, wie Gesetze von der Elite dieses Landes gebeugt oder gebrochen werden. Wie Menschen für billiges Essen ausgebeutet und gefährdet werden, Politiker sich von dubiosen Firmen bezahlen lassen – aber wir zeigen mit dem ausgestreckten Finger auf ein paar Jugendliche.
Was sagt das über uns?
Foto via Wikimedia
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